Auf und davon

30.07.2021

Zu Martins Geschichten gehört die Geschichte, als er an einem sonnigen Sommertag plötzlich einfach verschwunden war. Auch diese Geschichte ist ein bisschen Helgas Geschichte, denn Helga suchte ihren 10jährigen damals überall – und sie war es nicht gewohnt, Martin suchen zu müssen. „Er hat den Sterntalerhof sehr geliebt.“, erinnert sich Claudia. Sie ist Trauertherapeutin am Sterntalerhof und bis heute Helgas enge Vertraute. „Er hat die Tiere geliebt, allen voran Maxi, das Pferd – er sagte immer, Maxi gebe ihm ‚neue Füße‘!“ Aber Martin liebte auch die vie-len gut asphaltierten Wege am Sterntalerhof und die Tatsache, dass es hier keine Stufen gab, keine Treppen und keine anderweitigen Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten. Denn wenn Martin mit seinem Rollstuhl in Bewegung kam, war er kaum zu bremsen. „Er hat die Bewegung geliebt, die Geschwindigkeit – sie verkörperte für ihn Freiheit.“

Und diese Freiheit nahm sich Martin: Unter den vier Rädern seines Rollstuhls wurden Gehwege zur Rennstrecke. Er flitzte über den Sterntalerhof, mit geschickten Lenk- und Bremsmanövern schnitt er Kurven, sauste von Kapelle zu Reithalle, von Familienhaus zu Parkplatz – bis er eines Tages einfach weg war. „Das kann doch nicht sein,“ schwankte Helga zwischen Sorge und Verwunderung, „eben war er doch noch da“. Gemeinsam mit Claudia ging sie alle Wege ab, rief seinen Namen, sah nochmals in der Reithalle nach und checkte die Therapieräume, vergebens, von Martin fehlte jede Spur, er würde doch nicht – doch, er musste den Sterntalerhof verlassen haben! Nun begann die Sorge zu überwiegen, hastig eilten die beiden Frauen zum Parkplatz, von wo aus die Straße in die nahe Ortschaft nach Kitzladen führt. Doch Claudia und Helga mussten gar nicht erst einsteigen, schon von hier aus konnten sie Martin sehen: drei, vielleicht vierhundert Meter entfernt, am Ende der Straße bei der Ortseinfahrt, in seinem Rollstuhl sitzend und – tief entspannt mit einem Bauern plaudernd. Freiheit. Bewegung. Nonchalance. „Dafür stand Martin.“, lächelt Claudia, „Er wollte sein kurzes Leben nach Möglichkeit genießen.“ Martin der Autonarr, Martin der Hügelbezwinger, Martin der Rollstuhl-Pilot. Martin, der Zehnjährige, der den Sterntalerhof ungefragt verließ, um sich mit einem Bauern zu unterhalten.