Der beste Tag

28.09.2021

Zu Martins Geschichten gehört dieser eine besondere Tag im Oktober. Vielleicht ist es Martins beste Geschichte, doch auch diese Geschichte ist ein bisschen Helgas Geschichte – sie beginnt zumindest mit Helga, die an diesem scheinbar ganz gewöhnlichen Dienstag um sieben Uhr früh die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu fahren, auf den nahen Polizeiposten, wo sie seit Jahren als guter Geist für Ordnung und Sauberkeit sorgte. Martin war damals 14 Jahre alt, er war wie immer zuhause geblieben, bis Mama üblicherweise mittags wieder nach Hause kommen würde. Doch an diesem Dienstag morgen war sie schon eine Stunde später wieder da.

Ihr Chef, der Postenkommandant, hatte sie wieder nach Hause geschickt, sie solle dort mit Martin warten, er habe eine Überraschung für sie. Also fuhr Helga wieder nach Hause zu Martin, setzte sich an den Küchentisch, goss den restlichen Frühstückskaffee in ein Häferl und wartete. Was mochte der Kommandant gemeint haben? Womit wollte er sie überraschen? Und wollte Helga überhaupt überrascht werden?
Das Klingeln an der Tür riss Helga aus ihren Gedanken. Eine Polizistin und ihr Kollege, beide in Uniform, begrüßten sie freundlich. „Wir sind da, um Sie abzuholen – und Martin.“, lächelten sie geheimnisvoll, „Er macht heute einen kleinen Ausflug.“ Helga verstand die Welt nicht mehr. Einen Ausflug? Mit Martin? Wohin? Mit dem Rollstuhl? „Anordnung des Kommandanten.“, sagte die Polizistin in gespielt korrektem Beamtenton „Er weiß Bescheid.“ Natürlich wusste der Kommandant Bescheid, dachte Helga. Er wusste von Martin, von der Krankheit, vom Rollstuhl. Was wusste er noch? Und was hatte er vor? Sie half ihrem Sohn, sich anzuziehen, schlüpfte in ihre Windjacke und verließ dann mit den beiden Beamten die Wohnung. Vor dem Haus stand ein VW Bus der Polizei. Martins Rollstuhl verschwand im Kofferraum, er selbst nahm neben Helga auf der Rückbank Platz. Fragend sah er seine Mutter an, doch Helga zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Es war seine erste Fahrt in einem Polizeiauto und Martin fand schon das – ziemlich aufregend. Zu gern hätte er die Beamten gebeten, doch einmal kurz das Martinshorn zu aktivieren, weil er doch Martin hieß – aber er verbot es sich. Die Polizistin lenkte den Bus hinaus aus der Stadt auf die Autobahn. Zwanzig Minuten dauerte die Fahrt, Martin sah sich die Landschaft an und studierte den Verkehr. Dann verließ der Bus die Autobahn und kurvte über Landstraßen, um dann auf einem Parkplatz vor einem eckigen weißen Gebäude zum Stehen zu kommen. „Wachauring Melk“ las Martin über dem Eingang, es roch nach Benzin, von hinter dem Gebäude erklang lauter Motorenlärm. Helga verstand überhaupt nichts mehr. Die Polizisten luden den Rollstuhl aus dem Bus, halfen Martin beim Einsteigen und eskortierten die beiden in das Gebäude hinein, durch mehrere Gänge hindurch und auf der Rückseite des Gebäudes wieder ins Freie. Vor Martins Augen tat sich eine Traumwelt auf. Eine Rennstrecke, eine richtige Rennstrecke. Rotweißen Curbs und Reklametafeln. Geparkte Rennwagen, Mechaniker, kleine Pagodenzelte, Servicefahrzeuge. Doch bevor er die Szenerie in vollem Ausmaß begreifen konnte, standen sie plötzlich vor dem Postenkommandanten. Helga hätte ihn fast nicht erkannt, er trug nicht mehr die Uniform von heute früh, sondern eine sportliche Softshelljacke mit allerlei Aufnähern. Und er schien die verdutzten Gesichter von Helga und Martin in vollen Zügen zu genießen, er grinste geheimnisvoll.

„Herzlich willkommen am Wachauring!“, sagte er fröhlich und kniete sich hinab zu Martin. „Ich höre, du bist ein Autofan?“ Martin nickte respektvoll. „Ich höre, du magst Rennwagen?“ Erneutes stilles Nicken. „Und ich höre, du wünschst dir nichts mehr, als einmal eine Runde über die Rennstrecke zu drehen?“ Martin blickte den Kommandanten an, dann seine Mama, dann wieder den Kommandanten. Das konnte doch nicht wahr sein. „Dann sollte ich dir meinen besten Freund vorstellen.“, sagte der Kommandant. „Er heißt Max – und er ist Rennfahrer.“ Helga bekam einen Kloß im Hals. Der Kommandant stand auf, verabschiedete sich von den beiden Beamten und deutete Martin, ihm durch die Boxengasse zu folgen.

Helga sah Martin an, dass er nicht wusste, wohin er zuerst blicken sollte. Die Autos, die Mechaniker, die Geräusche von Werkzeugen, das Heulen der Motoren, dieser eigenständige Geruch – er fühlte sich wie im Paradies. Am Ende der Boxengasse stand ein weißrotes Mitsubishi Rallyeauto. Der Kommandant ging darauf zu, blieb davor stehen und sah den Jungen an. „Ein Lancer Evolution.“, flüsterte Martin ehrfurchtsvoll. „Eine Ikone.“, nickte der Kommandant. „280 PS!“, sagte Martin. „Eher 350“ korrigierte eine Männerstimme hinter ihm. Martin drehte sich in seinem Rollstuhl um. Max, ein junger Mann von dreissig Jahren in einem Racing-Overall lächelte Martin an: „Also du bist heute mein Beifahrer?“ Helga rutschte das Herz in die Hose. Martin strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hätte nix dagegen!“, sagte er frech. Kurz noch rang Helga mit sich, während Max und der Kommandant den 14jährigen Buben aus dem Rollstuhl hoben und ihn vorsichtig in das Rallyeauto hievten, an Überrollbügel und Feuerlöscher vorbei in den engen Beifahrer-Schalensitz. Dann besann sie sich, Martin sollte alles tun dürfen, was er tun wollte und was er tun konnte. Und was hier gerade geschah, war ohnehin nicht in Worte zu fassen. Nun begann Max seinen Passagier im Schalensitz zu verzurren wie ein Paket. Zuguterletzt setzte er Martin einen Helm auf, einen echten Rennfahrerhelm, mit Mikro und Funk, sodass sich Martin mit Max unterhalten konnte. Dann nahm der Rennfahrer hinter dem Lenkrad Platz, schnallte sich selbst an und schloss die Tür. Minutenlang starrte Helga von außen auf das Fahrzeug. Im Inneren sah sie nicht mehr Martin und Max, sondern zwei Menschen mit Helmen, fest angegurtet in ihren Schalensitzen. Sie sah die Handbewegungen des Rennfahrers, wie er Martin das Cockpit und die Schalter erklärte. Sie sah ihren Sohn aufmerksam zuhören und immer wieder verständnisvoll nicken. Es wirkte, als würden sich zwei Rallye-Piloten vor ihrer Fahrt bespre-chen. Da war er wieder, dieser Kloß in Helgas Hals – und doch fühlte sie sich überglücklich.

Mit einem ohrenbetäubenden Heulen startete der Motor, die Karosserie zitterte und aus dem Auspuff knallte es mehrfach. Instinktiv trat Helga einen Schritt zurück. Der Kommandant stellte sich neben sie und berührte sie am Arm. „Du schaff st das.“, sagte er aufmunternd. Jetzt brach es aus Helga heraus. Tränen. Dass sie nicht wisse, wie sie ihm dafür danken sollte. Noch mehr Tränen.
Wie unglaublich das sei. Und dass noch nie jemand so etwas Schönes für Martin gemacht habe. „Du schaff st das!“ wiederholte der Kommandant und lächelte seine Mitarbeiterin an. „Und du schaff st alles, was noch kommen mag.“ Helga rang um Fassung. „Natürlich.“, schluchzte sie glücklich. Langsam setzte sich der Mitsubishi in Bewegung. Ein kurzes Winken aus dem Cockpit, dann rollte das RallyeAuto an Helga vorbei, die Boxengasse entlang, zur Rennstrecke.