Die letzte Geschichte

01.11.2021

„Martin hat am Sterntalerhof viele Spuren hinterlassen.“, sagt Therapeutin Claudia nachdenklich. Jahrelang hat sie den Jungen, seine Mutter und seinen kleinen Bruder begleitet. Sie kennt die vielen Geschichten, aus denen Martins Leben besteht. Die Geschichte vom Erdhügel, die Geschichte vom Rallye-Auto – und noch viele mehr. Sie kennt auch Martins letzte Geschichte. Es ist eine Geschichte, die genauso zu Martins Leben gehört, wie alle anderen Geschichten – und die ebenso erzählt werden will. Auch diese Geschichte ist ein bisschen Helgas Geschichte, auch wenn sich Helga vielleicht wünscht, sie hätte sie nie ereignet. Aber es ist Helga, die irgendwann in der Vorweihnachtszeit am Sterntalerhof anruft, um Claudia zu sagen, dass es wohl nun bald soweit sei.

„Martin war sich seiner Endlichkeit bewusst.“, sagt Claudia. Jeden Abend vor dem Einschlafen sagte er zu seiner Mama wie lieb er sie hatte, wie dankbar er für ihre Hilfe sei und dass er ihr das unbedingt jeden Abend sagen müsse, weil er ja nicht wisse, wie lange er noch da sei. „Er verfügte über einen immensen Lebenswillen, er feierte das Leben und alles was es ihm gab.“, erinnert sich die Trauertherapeutin, „Aber er konnte auch das Sterben klar benennen.“ Und er war sich sicher – wenn er schon sterben musste, dann wollte er am Sterntalerhof sterben. Dafür jedoch gab es damals am Sterntalerhof noch keine Infrastruktur. Das Konzept der stationären Betreuung sieht vor, dass die Familien wiederholt in Intervallen von ein bis drei Wochen am Sterntalerhof Zeit verbringen. Innerhalb dieser Strukturen ist eine Sterbebegleitung vor Ort schwer möglich – schon allein, weil sie sich zeitlich nicht planen lässt. Dennoch blieb Martins Bedürfnis nicht ungehört. „Seine Familie war schon damals nicht die erste Familie, die mit diesem Anliegen an uns herangetreten ist.“, sagt Claudia. Martin jedoch war bereits 17 Jahre alt und in starker psychischer Verfassung. „Wir wollten es ihm einfach ermöglichen.“, erinnert sich die Therapeutin an den gemeinsamen Beschluss des Teams am Sterntalerhof, Martins letzten Wunsch zu erfüllen.

Helgas Anruf in der Vorweihnachtszeit löste am Sterntalerhof intensive Vorbereitungen aus. Für den unbestimmten Zeitraum von Martins letztem Aufenthalt sollte eine besonders engmaschige Betreuung greifen – von der medizinischen Absicherung durch Hospizarzt Dr. Gustav Herincs bis hin zur seelsorgerischen Arbeit durch Sterntalerhof-Gründer Peter Kai. Im Mittelpunkt jedoch sollten Martins Bedürfnisse stehen. „Es war so unwirklich,“, erinnert sich Claudia, „denn selbst in diesen letzten Tagen schien sein Lebensmut, seine einfache Fröhlichkeit ungebrochen.“

Drei einfache letzte Wünsche bringt Martin mit an den Sterntalerhof. Er möchte ein letztes Mal mit Peter Zeit verbringen. Er möchte mit Claudia ein letztes Cola trinken. Und er möchte sich von Maxi verabschieden, von dem Pferd, das ihn am Sterntalerhof getragen hatte, das ihm neue Füße gegeben hatte, wie er immer sagte. Seine drei letzten Wünsche, sie werden ihm erfüllt. Martin verabschiedet sich vom Sterntalerhof. Er verabschiedet sich von allen Menschen und allen Tieren. Dann tritt er seine letzte Reise an – und beendet seine letzte Geschichte, im Beisein seiner Mama Helga und seines kleinen Bruders Philip. „Was für uns bleibt, sind die Spuren die Martin hinterlassen hat.“, sagt Claudia. Zu diesen Spuren zählen die Geschichten, aus denen Martins Leben bestand, die viele Jahre später noch erzählt werden wollen.

Zu diesen Spuren zählt aber auch das neue Sternenhaus am Sterntalerhof, dessen Wichtigkeit rund um Martins Tod erkannt wurde – und dessen Bau nun endlich möglich wurde: Damit auch künftig Kinder und Familien ihre letzte gemeinsame Geschichte am Sterntalerhof schreiben können.