Kein Berg zu hoch

Lebens-Willen: Für Martin hieß das Hürden überwinden, Grenzen überschreiten, Herausforderungen meistern.

09.07.2021

Zu Martins Geschichten gehört die Geschichte mit dem Erdhügel. Vielleicht ist es auch ein bisschen Helgas Geschichte, denn für Helga, Martins Mama war sie besonders wichtig. Und sie kann sich besser an den Erdhügel erinnern kann als Martin – weil Martin damals erst fünf war.

Es waren wohl Bauarbeiter gewesen, die den Erdhügel angehäuft hatten, unweit von dem großen Haus, in dem Martin mit seiner Mama und seinem kleinen Bruder Philip wohnte und sie hatten ihn ganz bestimmt nicht für die Kinder aus dem Grätzel angehäuft – doch auf die Kinder übte der drei Meter hohe Haufen eine große Anziehungskraft aus. Munter kletterten sie auf die Spitze des Hügels – um dort in triumphalen Posen die Eroberung des Mount Everest zu verkünden, bevor sie auf der anderen Seite unter wildem Kreischen wieder hinunterrutschten.

Für Martin – schon damals fast nicht möglich. „Die Geschichte mit dem Hügel, das war in den Wochen nach der Diagnose“ erinnert sich Helga. Muskeldystrophie trifft fast ausschließlich Jungen. Über die Jahre lässt die seltene Krankheit Muskeln schwinden und schwächer werden, meist zuerst an Händen und Füßen, später an Armen, Schultern und Beinen, schließlich versagt die Herz- und Atemmuskulatur. Helga war aufmerksam geworden, als Martin mit fünf Jahren plötzlich Schwierigkeiten mit dem Laufen bekam, und beim Springen oder Treppensteigen schnell die Kraft verlor. Die Diagnose hatte Helgas Welt ins Wanken gebracht, aber Martins Fröhlichkeit fing sie auf. „Seine Neugierde, sein Lebenswillen schien ungebrochen“, erzählt Helga. Bald war klar – Martin sollte alles tun dürfen, was er tun konnte und was er tun wollte – wenn es denn zu verantworten war. Und was Martin wollte, war an diesem Nachmittag sonnenklar: Er wollte auf den Erdhügel.

Fasziniert sah er den anderen Kindern zu, wie sie ihre Hände in die Erde schlugen, sich mit Ellenbogen und Knien abstützten und behende den Gipfel erklommen. Geduldig wartete er einen guten Moment ab, dann startete er los. „Mir hat‘s das Herz zerrissen, wie schwer er sich getan hat, was für die anderen so leicht war.“ Doch Helga lässt ihr Kind machen. Immer und immer wieder rutschte Martin ab. Immer und immer wieder landete er ganz unten, am Fuße des Hügels. Immer und immer wieder setzte er an und versuchte es neu – bis es ihm schließlich irgendwann gelang! Wackelig aber siegessicher stand der kleine Junge auf dem Erdhügel und winkte seiner Mama. Seine Augen triumphierten. Ich wollte es schaffen. Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe es geschafft. Ich habe den Hügel bestiegen, bis ganz oben. Ich bin Martin, der Hügelbezwinger. Mir ist kein Berg zu hoch.