Was zählt, ist der Moment.
Die Geschichte von Sarah, Patrick, Emilia und Jakob – und einer seltsamen kleinen Tür.
„Allein schon das Auto“, erinnert sich Julia. Es ist ein ganz normales Auto. Aber es ist ganz genau festgelegt, wer wo sitzt und warum. Sarah fährt, Patrick ist Beifahrer, er fährt nicht so gern. Links hinten sitzt Emilia in ihrem Spezialsitz. Patricks Rückenlehne ist weit zurückgestellt, so kommt er leichter an Emilia ran. Und er muss immer wieder an sie rankommen auf der langen Fahrt an den Sterntalerhof, immer wieder röchelt oder hustet sie – dann muss Patrick die Zweijährige absaugen, kein leichtes Unterfangen in einem ganz normalen Auto. Sarah bleibt dafür gar nicht mehr stehen, sonst würden sie wohl nie ankommen und außerdem ist es draußen nass und kalt. Emilias großer Bruder Jakob sitzt rechts neben ihr, blickt aus dem Fenster, sucht beleuchtete Weihnachtsbäume in der Landschaft und zählt ausländische Lastwagen. Wenn Emilia Hilfe braucht, weiß auch er, was zu tun ist. Nur zwei, drei gut geübte Handgriffe – und wieder hat er seinem Papa geholfen, einmal mehr auf der langen Fahrt an den Sterntalerhof. Es ist ein ganz normales Auto. Von außen betrachtet ist es das Auto einer ganz normalen Familie. Wer sieht schon Emilias Spezialsitz. Wer sieht schon die fünf großen Taschen im Kofferraum, alle nur für Emilia. Gerätschaften, Kabel, Pumpen, Tücher, Bänder, Medikamente – und eine Box mit Windeln. Therapeutin und Elementarpädagogin Julia hilft ausladen. Es ist der erste Tag am Sterntalerhof für Familie Wallner. Es ist zwei Wochen vor Weihnachten. Und es ist das erste Mal, dass sie überhaupt irgendwo sind, seit Emilia vor zwei Jahren zur Welt kam, seit sich Sarahs, Patricks und auch Jakobs Leben ganz grundlegend geändert hat.
Sarahs Stimme wird leise, wenn sie davon erzählt. Von der Schwangerschaft, die eigentlich ganz unauffällig verlaufen war. Von den Vorbereitungen, die sie für Emilia getroffen hatten, von dem Zimmer, das sie für sie eingerichtet hatten, gemeinsam mit Jakob, der sich so auf seine kleine Schwester gefreut hatte. Und dann, von den dunklen Stunden rund um die Geburt, als plötzlich alles anders kam. Völlig unerwartet traten Komplikationen ein, Emilia musste reanimiert werden. Es folgte ein Kampf ums Überleben. Ein Kampf, den Emilia gewann, wenn auch nur vorübergehend und – mit Wunden, die sie ein Leben lang schwer beeinträchtigen würden. Sarah erinnert sich an den Verlust jeglicher Kontrolle, an einen tiefen Fall in ein seltsames Zwielicht, irgendwo zwischen Trauma und Bewusstsein – an einen Kampf um Emilias Leben, an dem sie selbst nicht mehr teilnehmen konnte.
Patrick hält Sarahs Hand. Wie seine Frau ist er Wissenschaftler, hat Sarah an der Uni kennengelernt. Immer wieder hat er ihre Hand gehalten, in den letzten zwei Jahren – und sie seine. „Wir wissen nicht, wieviel Emilia sehen kann“, sagt er beim Erstgespräch. „Wir wissen, dass sie nichts hören kann, jedenfalls nicht in unserem Dezibelbereich.“ Und dennoch reagiert Emilia empfindlich auf äußere Reize. Jeder Ortswechsel, jede Veränderung ihrer Lagerung kann mit Anfällen, Krämpfen oder gar Atemstillständen verbunden sein. „Das macht uns sehr vorsichtig.“, sagt Patrick. Und es macht vieles unmöglich.

Die Welt aus den Angeln
Am nächsten Morgen ist das nasskalte Regenwetter einem sanften Schneetreiben gewichen. Jakob sitzt am Fenster der Familienwohnung und beobachtet, wie die Wiesen am Sterntalerhof zunehmend unter einer Schneedecke verschwinden. Obwohl die Pferde bei diesem Wetter aus den Ställen dürfen? Ob ihnen dann kalt werden wird? Ob Pferden überhaupt kalt werden kann? Und wie kalt es wohl sein müsste, dass selbst einem Pferd kalt wird? Er kann es kaum erwarten, den Sterntalerhof zu entdecken. Sarah packt die letzten Taschen aus, Patrick ist mit Emilia beschäftigt. Jakobs Blick fällt auf ein Regal im Wohnzimmer. Da steht eine kleine Tür auf dem Regal, direkt an der Wand, nicht viel größer als ein Bilderrahmen für Fotos – und Jakob könnte schwören, dass gestern, als sie in die Wohnung einzogen, diese kleine Tür dort noch nicht stand. Mit einem Schritt ist Jakob beim Regal. Die kleine Tür ist weihnachtlich geschmückt, mit einem Mistelzweig und kleinen roten Kugeln und bei näherem Hinsehen bemerkt er, dass sich daneben ein kleiner Briefkasten befindet. Vorsichtig versucht er die Tür zu öffnen, aber sie bewegt sich nicht. Der Briefkasten jedoch, lässt sich öffnen und darin liegt, ganz klein zusammengefaltet, ein handgeschriebener Brief. Aufgeregt läuft Jakob zu Sarah. Die gibt sich überrascht, setzt ihre Brille auf und faltet das Papier auseinander. Der Brief, er ist von einem Weihnachtswichtel. Er schreibt, dass er über Nacht mit Mama, Papa, Jakob und Emilia hier eingezogen ist, dass er fortan hinter seiner kleinen Tür wohnen wird, dass er sich hiermit vorauseilend und pauschal für allerlei Streiche entschuldigt und – dass er sich im Übrigen allzeit über Post von Jakob freut. Jakob klopft das Herz bis zum Hals. Gleich nach dem Frühstück oder gleich nach dem Morgenkreis oder gleich nach dem ersten Besuch bei den Pferden, sobald es irgendwie geht – wird er für den Wichtel ein Bild malen, es so klein wie möglich zusammenfalten und es dann in den kleinen Briefkasten neben der kleinen Tür stecken.
Neben einem Sauerstoffgerät und einer Sauerstoffmaske für den Bedarfsfall, hat Emilia auch einen eigenen Überwachungsmonitor, der die Situation der Zweijährigen minutiös überwacht. Er ist das Teil, auf das Sarah und Patrick immer wieder zu sprechen kommen, wenn sie von zuhause erzählen, von ihrem Alltag. Der Monitor steht für Verlässlichkeit und Kontrolle – und für ein gewisses Gefühl von Sicherheit. „Er lässt dich schlafen“, sagt Sarah zu Julia. „Und gleichzeitig raubt er dir den Schlaf.“ Denn es kann Nächte geben, in denen er über zwanzigmal reagiert und schrill piepsend Alarm schlägt. „Meist sind es nur Fehlalarme, ausgelöst, weil Emilia flach atmet oder sich der Sensor von ihrem kleinen Finger gelöst hat – aber du weißt nie, wann es ernst wird.“ Sarah schluckt und starrt in das Schneetreiben vor dem Fenster. „Und wenn es ernst wird, dann musst du um drei Uhr nachts von Null auf Da sein.“, sagt Julia. Sarah nickt. „Dann geht’s um jede Sekunde.“, sagt sie leise. Solchen Nächten folgen lange Tage in einem seltsamen Nebel aus Erschöpfung, Angst und Niedergeschlagenheit. Ein nicht endender Kreislauf aus Tag und Nacht, ohne jede Erholung. Ein schlechtes Gewissen wegen Jakob, ihrem kleinen Forscher mit seinen vielen Fragen zu Vulkanen, Wolken und Dinosauriern, der sich sein Frühstück mittlerweile selbst macht – und der die vielen helfenden Handgriffe für Emilia schon viel zu gut beherrscht. „Für ihn bleibt viel zu wenig Zeit.“, seufzt Sarah. Über ein Jahr lang waren Patrick und Sarah beide zuhause, doch der finanzielle Druck wurde zu groß – zumindest in Teilzeit ist Patrick wieder berufstätig. Ein bisschen beneidet ihn Sarah. Sie wollte immer Mama sein. Sie wollte aber immer auch Wissenschaftlerin sein. Jetzt gibt es Tage, an denen sie sich fühlt, als wäre sie keins von beidem.
Die Entdeckung der Langsamkeit
„In einer ersten Woche am Sterntalerhof geht es immer vorrangig um ein Kennenlernen.“, sagt Julia. Für die Therapeutin stellen sich in den ersten Tagen eine ganze Reihe von Fragen: Wie funktioniert die Familie? Wo sind Sarahs und Patricks größte Bedürfnisse? Wo sind ihre Ressourcen, was macht sie stark? Was braucht Jakob? Dann entfesselt sie die ganze Kraft des Sterntalerhofs. Ein multiprofessionelles Team aus Psychologie, Seelsorge und Therapeutinnen unterschiedlicher Fachrichtungen, mit denen sie sich austauschen kann. Vierbeinige Co-Therapeuten zum Getragenwerden, zum Über-sich-Hinauswachsen, oder einfach nur zum Kuscheln. Kunst, Musik und Meditation für innere Einkehr, für ein Zu-sich-Finden in schweren Zeiten. Vor allem jedoch will Julia Räume schaffen für ein gemeinsames Kraft-Tanken der Familie. Für Sarah und Patrick verschiebt sie den Morgenkreis von neun Uhr früh auf irgendwann. Weil für Sarah und Patrick nichts so wichtig ist – wie Schlaf. Für Sarah und Jakob schafft sie einen Vormittag nur für die beiden allein – weil sich Jakob nichts sehnlicher wünscht, als mit seiner Mama die Blubberbadewanne in der Familienwohnung auszuprobieren. Für Patrick und Jakob sattelt sie Summer, Jakobs Lieblingspferd – mit dem man so gut Cowboy spielen kann. Sie greift Sarahs wunderbare Geschichte vom Weihnachtswichtel auf und sorgt für geheimnisvolle Spuren im Mehl in der Küchenwerkstatt. Sie schafft eine Woche ohne Ausnahmezustand. Ohne schrill piepsende Monitor-Alarme. Mit Betreuung für Emilia. Mit Papazeit und Mamazeit. Mit Jakob im Mittelpunkt. „Das Angebot ist dabei nicht so wichtig.“, sagt Julia, „Da ist mein Ort. Da ist mein Pferd. Da sind die Menschen, die ich kenne – da darf ich sein, wie ich bin. Und hierhin kann ich zurückkommen.“
Am letzten Tag malt Jakob ein ganz besonders schönes Bild für seinen Weihnachtswichtel. Insgeheim hofft er, ihn damit überzeugen zu können, in eine der fünf Taschen zu hüpfen, in denen Emilias ganze Gerätschaften verpackt sind und die schon vor der Tür der Familienwohnung auf die Abreise warten. Darin würde sich sicher noch Platz finden, für den Briefkasten und die kleine Tür und alles, was dahinter wohl stecken mochte. Familie Wallner nimmt Abschied vom Sterntalerhof. Für Sarah und Patrick gibt es nach dieser Woche keine Ergebnisse, keine Resultate, die sich irgendwie wissenschaftlich verwerten ließen. Es gibt nur den Moment. Die gemeinsame Zeit. Das eigene Tempo. Es gibt neue Erinnerungen und vielleicht neue Kraft für zuhause. Für Weihnachten. Für lange Nächte und schwierige Tage, die wieder kommen werden, unweigerlich – aber erst irgendwann. Denn jetzt geht’s zuerst mal nach Hause. In einem ganz normalen Auto, mit Emilia in ihrem Spezialsitz neben Jakob, mit Sarah am Steuer, mit Patrick im Beifahrersitz und zurückgestellter Rücksitzlehne. Vorbei an beleuchteten Weihnachtsbäumen und ausländischen Lastwagen. Mit fünf Taschen an Bord, voller Gerätschaften, Kabel, Pumpen, Tücher, Bänder und Medikamente. Und mit einer Box für Windeln, in der schon auf der Hinfahrt keine Windeln lagen – sondern eine kleine Tür und ein Briefkasten.
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