Alles, was war.
Regionale Trauerbegleitung hilft verwaisten Familien – wie Marietta, Lukas und Philipp.
Seit drei Tagen ist alles anders. Alle Pläne. Alles, was war. Marietta kann es nicht begreifen. Sie steht im Hof vor ihrem Haus, vor Daniels Elternhaus. Hier sind sie gemeinsam im Schutt gestanden und haben geschuftet, um es herzurichten. Hier sind sie vor vier Jahren eingezogen, kurz bevor sie schwanger wurde. Hier hat Lukas seine ersten drei Lebensjahre verbracht, hier sollte auch Philipp aufwachsen, er ist erst vor drei Wochen auf die Welt gekommen. Hier in diesen Hof ist Daniel nach Hause gekommen, vor drei Tagen am späteren Abend. Daniel, ihr Mann, Lukas’ Papa, Philipps Papa. Landwirt, Fußballtrainer, Autofan. Liebe ihres Lebens. Er ist nach Hause gekommen, nach einem Abend mit Freunden, um Philipps Geburt zu feiern. Er hat seinen BMW vor dem Tor geparkt, das Tor geöffnet und den Hof betreten. Dann ist er zusammengebrochen. Und nicht mehr aufgestanden. Marietta weiß, dass sie alles versucht hat, gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter, bis die Rettung endlich da war. Sie weiß, dass er kaum etwas getrunken hatte und dass dich eine Lungenembolie auch als jungen Menschen treffen kann. Einfach so. Wie aus dem Nichts. Sie weiß das alles – und doch kann sie es nicht begreifen. Noch fünf Tage bis zu Daniels Begräbnis. Was ist mit Lukas, er ist erst drei Jahre alt. Was ist mit Philipp, er ist gerade mal drei Wochen alt.
Marietta ringt um Fassung. Christina steht an ihrer Seite. Sie ist Psychologin am Sterntalerhof. Sie kann da sein, weil der Sterntalerhof nur zehn Autominuten von Mariettas Zuhause liegt. Sie bringt Ruhe mit – und Erfahrung, in diesen wirren, langen unwirklichen Tagen vor Daniels Beerdigung. Behutsam richtet sie Mariettas Blick auf scheinbar ganz banale Dinge. Nimm einen Außenstehenden mit, der sich um Lukas kümmert. Nimm einen Rucksack mit, pack Essen und Trinken ein und Lukas’ Lieblingsgummizeug. Kinder trauern anders. Sie springen in die Trauer – und wieder hinaus, sind in einem Moment tieftraurig und im nächsten wieder vergnügt. Zum Abschied will Lukas dem Papa seinen Stoffhasen schenken. Doch Christina weiß, dass Lukas seinen Stoffhasen vielleicht brauchen wird, wenn der Schmerz kommt und dass es vielleicht gut ist, wenn Marietta einen zweiten Stoffhasen besorgt, den Lukas dem Papa ins Grab legen kann. Und sie rät Marietta, jemand Vertrauten zu bitten, Fotos zu machen. Pietätvolle Fotos, auf denen Lukas und Philipp aber gut zu sehen sind – damit die Kinder, wenn sie älter werden, allfällige Erinnerungslücken schließen können.
Vier Monate später ruft Marietta bei Christina an. Es hat sich ein Interessent für Daniels BMW gemeldet, er kommt am Samstag. Jetzt ist es real. Sie wird den BMW verkaufen, Daniels geliebtes Auto. Gestern ist sie eingestiegen und – musste wieder aussteigen. Das Auto riecht nach Daniel, sie sieht ihn überall und im Handschuhfach liegen Zettel mit seiner Handschrift, immer noch. Marietta weiß nicht, wie sie den BMW verkaufen soll, einmal mehr fühlt sie sich schwach, wo sie doch stark sein sollte, für Lukas und Philipp. Christina sagt Marietta, dass Autos viel Symbolik tragen. Sie sind wie kleine Wohnräume. Sie speichern Gerüche. Sie aktivieren die Erinnerung, den Schmerz. Christina rät Marietta jemanden zu bitten, das Auto gemeinsam mit ihr auszuräumen. Und – nur weil man etwas aus Daniels BMW ausräumt, muss man es nicht entsorgen. Man kann es auch in eine Kiste geben, für später, für irgendwann. Marietta muss nicht jetzt entscheiden, ob der Zettel mit Daniels Handschrift noch ein Jahr bei ihr bleibt, oder länger. Am Sonntagmorgen schreibt Marietta, sie hat es geschafft. Der BMW ist verkauft. Der neue Besitzer wird gut darauf aufpassen.
Im Sommer ist Marietta mit Lukas und Philipp eine Woche am Sterntalerhof, zum Traueraufenthalt. Seit Daniels Tod ist fast ein Jahr vergangen. Marietta möchte umziehen. Sie spürt, dass sie einen Neubeginn nur schaffen kann, wenn sie mit Lukas und Philipp in ein anderes Haus zieht. Gleichzeitig hat sie Angst, ihrem Vierjährigen eine Veränderung zuzumuten. Sie weiß nicht, wie sie es ihm sagen soll. Wieder stellt sich Christina an Mariettas Seite, einen ganzen Vormittag will sie nur dem Thema Umzug widmen. Was passiert denn, bis zum Umzug? Gemeinsam mit Lukas erarbeiten sie wichtige Meilensteine in der Zeit bis zum Umzug – und malen jeden Meilenstein auf ein kleines Kärtchen. Den Kindergartenbeginn. Das Wochenende mit den Großeltern, den geplanten Besuch im Zoo. Lukas’ Geburtstag. Papas Geburtstag. Alles kommt auf kleine Kärtchen, mit Bildern und Zeichnungen – greifbar und real. Marietta darf einfach Mama sein, mit Lukas die Farben wählen, ihn halten, wenn er unsicher wird. Einatmen, ausatmen, Kraft tanken – für sich selbst, für die Trennung von dem Haus, das sie gemeinsam gebaut haben, von dem Hof, in dem Daniel zusammengebrochen ist, für ihren bevorstehenden Umzug.
Seit einem Jahr ist alles anders. Alle Pläne. Alles, was war. Marietta steht vor einem neuen Haus – in derselben Ortschaft. Hier wird Lukas aufwachsen, hier wird auch Philipp aufwachsen, er ist jetzt ein Jahr alt. Hier wird sie für Daniel ein Bäumchen pflanzen, gemeinsam mit Lukas und Philipp. Das Bäumchen haben sie schon ausgesucht, in einer Baumschule in der Nähe des Sterntalerhofs – ein Apfelbäumchen, eine alte Sorte, das hätte Daniel gefallen, schließlich war er Landwirt. Auch den Platz dafür haben sie schon ausgesucht, es wird hinter dem Haus stehen, so dass dort später auch Hasen und Hühner einziehen können. Christina wird dabei sein, wenn sie es pflanzen. Sie wird fragen, was das Bäumchen denn brauchen könnte, um groß und stark zu werden, womit man es schmücken könnte. Vielleicht braucht es Bügelperlen. Vielleicht ein paar Steine aus dem alten Hof. Eine Zeichnung, die vorher laminiert wird, damit sie ganz lange hält. Oder einen handgeschriebenen Zettel – aus dem Handschuhfach eines BMW.
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